BGH: Keine Organhaftung bei Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen trotz bestehender Insolvenzreife (Rechtsprechungsänderung)
von Christoph Wink
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht
Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 14.05.2007 entschieden, dass der organschaftliche Vertreter (Vorstand bzw. Geschäftsführer) einer AG (eG) bzw. einer GmbH, der bei Insolvenzreife der Gesellschaft „den sozial- oder steuerrechtlichen Normbefehlen folgend Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherung oder Lohnsteuer abführt“, mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters handelt und sich damit nicht nach § 92 III AktG oder § 64 II GmbHG der Gesellschaft gegenüber erstattungspflichtig macht.
Darüber hinaus hat der II. Zivilsenat befunden, dass ein organschaftlicher Vertreter einer Gesellschaft seine Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verletzt, wenn er bei fehlender eigener Sachkunde zur Klärung des Bestehens der Insolvenzreife der Gesellschaft den Rat eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträgers einholt, diesen über sämtliche für die Beurteilung erheblichen Umstände ordnungsgemäß informiert und nach eigener Plausibilitätskontrolle der ihm daraufhin erteilten Antwort dem Rat folgt und von der Stellung eines Insolvenzantrags absieht.
Das Urteil liegt mittlerweile auf der Website des BGH im Volltext vor (s. nachstehenden Link).
Anmerkung
1. Die – im Ergebnis längst überfällige – Entscheidung ist zu begrüßen. Sie löst die Diskrepanz der Rechtsprechung des V. Strafsenats des BGH zur derjenigen des II. Zivilsenats auf, die letztlich für organschaftliche Vertreter von krisenbehafteten Gesellschaften (AG, eG, GmbH) zu untragbaren Konsequenzen führte.
Die Nichtabführung der anfallenden und fälligen Arbeitnehmeranteile erfüllt den Straftatbestand des § 266a StGB („Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt“) und löst damit – neben den strafrechtlichen Konsequenzen – auch eine persönliche Schadensersatzpflicht des organschaftlichen Vertreters gem. §§ 823 II BGB i.V.m. 266a StGB aus. Die Krisensituation der Gesellschaft führt in ständiger Rechtsprechung des V. Strafsenats des BGH nicht zu einer abweichenden Beurteilung der straf- (und in der Konsequenz damit auch zivil-) rechtlichen Verantwortlichkeit des Organs.
Demhingegen entschied der II. Zivilsenat mehrfach (BGH, Urteil v. 08. 01. 2002, II ZR 88/99; BGH, Urteil v. 18. 04. 2005, II ZR 61/03), dass die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen oder Lohnsteuern bei bestehender Insolvenzreife eine Masseschmälerung i.S.d. §§ 92 III AktG, 64 II GmbHG darstelle – mit der Folge, dass dann der Gesellschaft (im Fall der Insolvenz vertreten durch den Insolvenzverwalter) Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand / Geschäftsführer zustanden. Die Vermeidung der persönlichen Haftung und der Strafbarkeit stellte nach der bisherigen Rechtsprechung des II. Senats keinen Umstand dar, der eine abweichende Beurteilung angezeigt hätte.
Im Ergebnis bedeutete dies vereinfacht ausgedrückt: Der Vorstand / Geschäftsführer hatte die Wahl, sich schadensersatzpflichtig und strafbar oder „nur“ schadensersatzpflichtig zu machen.
Diese hoch problematische und im Ergebnis nicht akzeptable Situation löste im Einzelfall einen erheblichen Beratungsbedarf aus, wobei in der Beratungspraxis verschiedenste Lösungsansätze entwickelt wurden, um das Risiko der organschaftlichen Vertreter weitstgehend zu reduzieren. Die Diskrepanz hat der II. Zivilsenat nunmehr unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zugunsten des organschaftlichen Vertreters gelöst:
„Mit Rücksicht auf die Einheit der Rechtsordnung kann es dem organschaftlichen Vertreter nicht angesonnen werden, die Massesicherungspflicht nach §§ 92 III AktG, 64 II GmbHG zu erfüllen und fällige Leistungen an die Sozialkassen oder die Steuerbehörden nicht zu erbringen, wenn er sich dadurch strafrechtlicher Verfolgung aussetzt. Sein die entsprechenden sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften befolgendes Verhalten muss deswegen im Rahmen der bei §§ 92 III AktG, 64 II GmbHG anzustellenden Prüfung als mit den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar angesehen werden.“
Damit stellt der BGH klar, dass die Abführung der Leistungen an die Sozialkassen (Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung) bzw. an die Fiskalgläubiger (Lohnsteuer) keinen Verstoß gegen die §§ 92 III AktG, 64 II GmbHG (mehr) darstellt und damit keine persönliche Haftung des Vorstands / Geschäftsführers (mehr) begründet.
2. Darüber hinaus hat der II. Zivilsenat befunden, dass ein organschaftlicher Vertreter einer Gesellschaft – der über die erforderliche Sachkunde zur Klärung der Insolvenzreife des von ihm geleiteten Unternehmes nicht verfügt – seine Insolvenzantragspflicht nicht schuldhaft verletzt, wenn er den Rat eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträgers (hier: Einschaltung eines Wirtschaftsprüfers) einholt, diesen für die Beurteilung vollumfänglich informiert und nach eigener Plausibilitätskontrolle der ihm daraufhin erteilten Antwort dem Rat folgt und von der Stellung eines Insolvenzantrags absieht.
Auch insoweit begründet der II. Senat mit klaren Worten eine Absicherung der organschaftlichen Vertreter:
„… Es wäre nicht zu rechtfertigen, einem organschaftlichen Vertreter abzuverlangen, unabhängigen, fachkundigen Rat zur Klärung des Bestehens einer Insolvenzlage einzuholen und es ihm gleichwohl als schuldhaften Verstoß gegen seine Sorgfaltspflichten anzulasten, wenn er sich – trotz fehlender eigener ausreichender Sachkunde – dem fachkundigen Rat entsprechend verhält.“
Quelle: BGH, Urteil vom 14.05.2007 (II ZR 48/06)
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